Fraueninitiative Leipzig

Trotz der sozio-ökonomischen Unabhängigkeit von Frauen waren „trotz 40 Jahre Sozialismus” die tradierten stereotypen Geschlechterbilder auch in der Mehrheitsbevölkerung der DDR tief verankert – und auch in oppositionellen Gruppen vorhanden. Frauenpolitische Sichtweisen und Forderungen wurden oft vernachlässigt, vergessen, nicht ge-/erhört, klein gemacht… ignoriert. Dass die Zeit des “patriarchalen Sich-Erhöhens schon lange ein Auslaufmodell war”, hatten die Bürgerrechtler auch im Neuen Forum noch nicht ganz begriffen. Mehrere der Aktivistinnen* im Neuen Forum aber schon.



In der evangelischen Trinitatiskirche Reudnitz Leipzig versammelten sich am 22.11.1989 ca. 80 Frauen, die einem Aufruf von Frauen u.a. des Neuen Forums gefolgt waren – darunter Sophia Bickhardt, Jana Gohrisch, Dietlind Starke und Cornelia Matzke, die diesen Abend detailliert vorbereitet hatten. Das Ziel war: Den Programmentwurf der Fraueninitiative Leipzig im Neuen Forum zu diskutieren – auch vor der wahrgenommenen Notwendigkeit, Strukturen im Neuen Forum zu schaffen, die der gesellschaftspolitischen Relevanz frauenpolitischer Themen und Forderungen adäquat geschlechterdemokratisch entsprechen können. D.h. mindestens eine paritätische Prioritätensetzung – bei einem Bevölkerungsanteil von Frauen mit mehr als der Hälfte

Mehr zu dieser Gründungsveranstaltung der Fraueninitiative Leipzig: folgt hier in Kürze

Aber solche grundsätzlichen Strukturveränderungen setzen vor allen die bewusste Auseinandersetzung, das bewusste An-/Erkennen-Wollen von Realitäten voraus – und vorab natürlich die Bereitschaft sich quasi in einen weiteren Transformationsprozess begeben zu wollen. Aber diese Bereitschaft fehlte im Neuen Forum!

Die folgerichtige Entscheidung der Fraueninitiative Leipzig: Am 10. Januar 1990 wurden auf einer der Vollversammlungen die Folgen, die Vor- und Nachteile einer vom Neuen Forum autonomen Leipziger Fraueninitiative diskutiert – und über den Austritt aus dem NF abgestimmt. Von 110 teilnehmenden und stimmberechtigten Frauen stimmten 101 für eine unabhängige Fraueninitiative, acht für die weitere Arbeit im NF; plus eine Stimmenthaltung.

Die unabhängige Fraueninitiative Leipzig (FIL) konnte durch diese Entscheidung nun sehr konsequent gerichtet und effizient(er) frauenpolitische Forderungen verfolgen/angehen. Die FIL agierte basisdemokratisch: In monatliche Vollversammlung wurden alle Entscheidungen gemeinsam getroffen und über das FIL-Informationsmedium „Frauenblätter” (seit 12|1989) öffentlich gemacht.

Da bereits im März 1990 die ersten frei DDR-Volkskammer-Wahlen anstanden, mussten in diesen Kontext die 89er-Aktivistinnen (nicht nur in Leipzig) Strukturen schaffen, um eine frauen- bzw. wahlpolitische Öffentlichkeit zu ermöglichen.

Frauenblätter Nr. 2

Informationen der Fraueninitiative im NF Leipzig | 22.12.89
Die verantwortliche Redakteurin Dietlind Starke:

Zur Weihnachtszeit kommt nun endlich das 2. Infoblatt. Da wir nur begrenzte Möglichkeiten zur Vervielfältigung haben, können wir im Moment nicht schneller und besser informieren. Aber 1990 soll ja alles besser werden …

1. Wie versprochen, gibt es diesmal eine kurze, inhaltliche Darstellung der Arbeitsgruppen.

Arbeitsgruppe Mutter/Kind
Wir möchten den Kontakt zwischen Müttern mit kleinen Kindern anregen und dazu in unseren Wohngebieten Anlaufstellen schaffen/Anlaufpunkt sein. Zum einen wollen wir die Möglichkeit schaffen, Informationen weiterzugeben (und Erfahrungen, die die Geburt, das Stillen, die Ernährung, das Fragen des Kindes und das Leben mit einem Säugling allgemein betreffen. Zum anderen geht es uns darum, den Müttern mit ihren Kleinkindern regelmäßige Treffen in einer Gruppe anzubieten.
U. Z.

Frauen in Notsituationen
Wir wollen einen Anlaufpunkt für Frauen in Notsituationen schaffen. Darunter verstehen wir Frauen, die Gewalt ausgesetzt sind, die Suchtprobleme haben oder nach einem versuchten Selbstmord ihren alten Problemen gegenüberstehen. Dringend brauchen wir Geld, Räumlichkeiten und Mitarbeiterinnen.
G. E.

Gruppe Frau und Recht
Wir möchten Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen. Die gesetzlich geregelte Gleichberechtigung der Frauen äußert sich in einer Dreifachbelastung. Das muss ein Ende haben. Es gibt auch andere Gesetze zu ändern oder zu präzisieren, die das Recht von Frauen betreffen. Andererseits möchten wir die gewonnenen Rechtskenntnisse an diesbezüglich hilfsbedürftige Frauen weitergeben oder ihnen Beistand bei der Durchsetzung ihrer Interessen leisten.
A. P.

Sprache und Gesprächsstrukturen
Sprache ist das begriffliche Denken und bildet unser Bewusstsein. Wir suchen nach möglichen Alternativen für das Deutsche als „Männersprache“. Außerdem beschäftigen wir uns mit Gesprächsstrukturen. Wie kommt es z. B. dass männliche Gesprächsteilnehmer öfter und länger reden als die anwesenden Frauen?
V. S.

AG weiblicher Kultur
Davon ausgehend, dass es ein spezifisch-weibliches Lebens- und Weltgefühl gibt, soll anhand von weiblicher Kunst, Kultur und Lebensweise dieses untersucht werden (und zur Diskussion gestellt werden). Was heißt hier „unbeschreiblich weiblich“? Wo beginnt das „typisch Frau“ und gibt es den „weiblichen Blick“ auf die Welt?
B. J.

AG Feminismus
Die Arbeitsgruppe beschäftigt sich mit theoretischen und praktischen Erfahrungen der Frauenbewegungen westlicher Länder (BRD, GB, USA) und diskutiert davon ausgehend Begriffe wie Feminismus, Patriarchat usw. sowie ihre Anwendung auf die Verhältnisse in der DDR.
C. G.

Gruppe Lokalpolitik
Wir organisieren die Teilnahme der Fraueninitiative am Runden Tisch und im Bürgerinnenkomitee. Außerdem sammeln wir alle Informationen über die demokratischen (und undemokratischen) Veränderungen in unserer Stadt, um gegebenenfalls darauf Einfluss zu nehmen. Wir suchen dringend Frauen zur Mitarbeit, die es sich zutrauen, am Runden Tisch und über das Bürgerkomitee die Interessen der Frauen zu vertreten. Vor allem geht es darum, anstehende Veränderungen im Bereich der Subventionspolitik, Bürokratieabbau, wirtschaftliche Umstrukturierungen in ihren Auswirkungen auf Frauen u analysieren und zu kontrollieren. (Besonders sind wir auf die Mitarbeit von Ökonominnen, Psychologinnen, Soziologinnen… angewiesen).
D. S.

Die Kontaktadressen stehen im Frauenblatt Nr. 1

2. Auf der Vollversammlung wollen wir darüber entscheiden, ob wir als Initiative am Neuen Forum verbleiben oder uns als eigenständige Organisation anmelden.

Einige Gedanken des Koordinationsausschusses dazu:
Als erstes möchte ich eine Information voranschicken. Laut Mitgliedsliste unserer Fraueninitiative ist der größte Teil der Frauen nicht Mitglied im Neuen Forum. Gespräche ergaben, dass sich viele Frauen nicht mit der Politik des Neuen Forums identifizieren können, die Einordnung der Initiative also ablehnen. Konkrete Erfahrungen bei der Zusammenarbeit mit dem Neuen Forum und das Beispiel der Lösung
einer Erfurter Frauengruppe haben uns darin bestärkt, dass wir als eigenständige Vereinigung unsere Interessen und Anliegen besser verwirklichen können. So erfolgt als Vereinigung die Einwirkung auf staatliche Instanzen direkter, ein Beispiel ist der Runde Tisch. Ähnlich verhält es sich bei der Verteilung von Räumlichkeiten. Als Arbeitsgruppe des NF sind wir von dessen Verteilungsplan abhängig.

Noch ein weiteres Argument für die Eigenständigkeit: Am 3.12. gründete sich in der Berliner Volksbühne ein Dachverband der autonomen Fraueninitiativen, der 2 Vertreterinnen an den Runden Tisch der Regierung delegiert und sich als Vereinigung, die unserer Spezifik gerecht wird und eine Alternative zum DFD ist.
B. G.

3. Berichte
Gründung eines unabhängigen Frauenverbandes
Wer sich nicht wehrt, kommt an den Herd“, so lautete das Motto am 3.12. in der überfüllten Volksbühne zur Gründung des Verbandes. Er soll zur Koordinierung autonomer Fraueninitiativen dienen. Ein Koordinationsrat, bestehend aus Vertreterinnen aller unabhängigen Gruppen, arbeitet im Moment Struktur und Programm aus. Leipzig wird abwechselnd durch S. B., D. S. und J. G. vertreten. Wenn ihr Vorschläge zur Struktur habt, schickt sie bitte an Sophia bis zum 5. Januar (auch Vorschläge für das Programm). Statut und Programm müssen innerhalb von 3 Monaten erarbeitet werden, dann wird ein Gründungskongress stattfinden. Das vorgestellte Manifest von Ina Merkel schicken wir an jede Arbeitsgruppe. Leider haben wir nicht genügend Exemplare, um jeder Frau eins zukommen zu lassen.

Ich wünsche allen ruhige und erholsame Weihnachtstage und viel Kraft fürs Neues Jahr. Ich glaube, die können wir brauchen.
D. S.

Aus dem Programmentwurf der Fraueninitiative Leipzig

„Frauenfragen, wozu, es gibt Wichtigeres“ und „was, du bist eine Emanze, gegen die Männer und so?“ und „sieh doch endlich ein, es ist biologisch begründet“. … Die Palette der Vorwürfe bietet keine Farben, dass frau sich wirklich malen könnte. Deshalb sollte frau sie einfach überhören.“

„Pfeil und Bogen bleiben den Amazonen überlassen, dem Mythos der Männer, wir nutzen andere, zeitgemäße Mittel: das Wort und die Tat. Unser Wort soll strittig sein. Doch keinen Streit um die Macht wünschen wir.“

„Unsere Tat soll versiegelte Türen öffnen, Inseln betreten und im Zeitennebel Versunkenes ergründen. Doch wir wollen einladend die Hände heben, Brücken bauen, Lichter setzen.“

„Wir Frauen schauen auf ein Hier und Heute, das gewachsen ist aus einem Gestern, in dem uns Frauen oft genug das öffentliche Wort verboten wurde.“

„Wir wollen lernen, zu diesem Wort für uns und für andere zu finden. Deshalb müssen wir unser Geworden-Sein, unser So-Sein ergründen und uns untereinander verständigen.“

„Also geht es uns zunächst um dieses gemeinsame Suchen, Reden, Helfen und die kleinen Schritte der Wandlung.“

Dass diese Gesellschaft friedliebend, antifaschistisch und demokratisch organsiert sein muss, sind
Grundbedingungen.

Antifaschistisch heißt, dass übersteigertes Nationalgefühl keinen Raum in unserem Denken findet,
dass wir mit Achtung anderen Kulturen begegnen und auch im eigenen Land uns an der Buntheit der
Ideen erfreuen.

Das Recht, stellvertretend für viele etwas entscheiden zu dürfen, muss an Kompetenz und moralische
Integrität gekoppelt sein.

Kompetent ist jede Frau und jeder Mann durch aus Betroffenheit und Verstehen erwachsendem
Verantwortungsgefühl.

Eine wichtige Voraussetzung zur Erlangung von Selbstbeständigkeit ist die materielle Unabhängigkeit.

Ziel muss sein, dass Arbeitsprozesse und deren Ergebnisse abgestimmt sind mit Prämissen der
Ökologie, der Gesunderhaltung, der individuellen Lebensgestaltung.

So wie wir Öffentlichkeit, das heißt freie Meinungsäußerung in den Medien ( Presse, Rundfunkt,
Fernsehen), für ökologische, wirtschaftliche, systemtheoretische Fragen einklagen, gilt es
frauenspezifischen Problemdarstellungen Platz einzuräumen.

Das Soziokulturelle Zentrum Frauenkultur Leipzig führt anlässlich des 30. Jahrestages des 9. Oktobers 1989 einen Kunstwettbewerb zu „Frauen 1989 und Künstlerinnen 2019“ in Leipzig durch. Original-Archiv-Texte von 1989/1990 wurden von Künstlerinnen 2019 mit bildnerischen Mitteln in einen aktuellen Bezug transformiert. So wurden gleichzeitig die historische Dimension der Aktivitäten von Frauen 1989 künstlerisch in den Mittelpunkt gestellt – und „authentische und sehr berührende Momente von Frauen 1989” geschaffen.

Hier zu sehen drei Werke dieses Kunstwettbewerbes. Alle 62 eingereichten Kunstwerke und digitalisierte Archiv-Materialien der Frauenkultur aus vor, um, nach ’89. -> Hier

Werk und Künstlerin in der Reihenfolge von links nach rechts:
Solidarität | Kamplade, Hille 2019
Wurzel | Bakir, Mirette 2019
Wort und Tat | Ragy Enayat, Mona 2019