Susanne Wagner
1989: 21 Jahre, ledig, Studentin, Pädagogik Deutsch/Englisch
2009 lehrte sie Kognitionswissenschaft an der Universität Halle-Wittenberg
seit 2014 Projekt- und Abteilungsleiterin, BBW Berufsbildungswerk Leipzig für Hör- und Sprachgeschädigte
In der Zeit von Sommer ’89 bis Februar ’90 waren meine wichtigsten Bezugspersonen außerhalb meiner Seminargruppe alle in der Sowjetunion zum Auslandsstudium. Sie waren genau in dem Zeitraum, wo ich sie am nötigsten brauchte, nicht da. Und in der Sowjetunion konnten sie kein West-Fernsehen empfangen und durften nur Neues Deutschland und Junge Welt lesen. Das heißt, sie waren völlig abgekoppelt. Ich führte damals einen sehr intensiven Briefwechsel mit zwei Frauen, mit denen ich auch heute noch sehr gut befreundet bin. Viele der Briefe schrieb ich mit Durchschlag, weil die Briefe ja ganz lange Laufzeiten hatten und damit ich überhaupt noch wusste, worauf sie antworten. Es dauerte zwei, drei Wochen, bis der Brief dort war, und dann wieder so lange, bis die Antwort zurückkam.
Es hatte den positiven Hintergrund, dass ich viele meiner wirren Gedanken klar gekriegt habe, weil ich beim Schreiben vieles für mich selber kläre. Und da ich die Briefe immer doppelt schreiben musste, einmal an die eine Freundin und einmal an die andere, musste ich das immer zweimal durchrödeln. Das habe ich fast jeden Abend gemacht. Ich saß abends viele Stunden und schrieb. Offensichtlich sind die Briefe auch alle angekommen, ich hatte sie durchnummeriert, damit eventuelle Lücken auffallen. Dass die STASI die Post öffnet, liest und danach weiterschickt, das wusste ich damals noch nicht. Die Briefe waren auch im Nachhinein eine wichtige Klärungsquelle für mich. Noch einmal lesen zu können, was ich damals gedacht und empfunden habe.
In den Briefen kann ich auch nachlesen, wie oft ich am Verzweifeln war über die DDR. Die Verzweiflung kam daher, dass ich mit so einer Art Ideal aufgewachsen bin, wie wahrscheinlich viele Kinder in meinem Alter – und dieses Ideal dann so nach und nach habe kaputtgehen sehen. Ich dachte: Das kann doch nicht wahr sein. Sie erzählen, sie wären menschenfreundlich und für den Frieden. Und wenn man in Jena mit einer Kerze auf dem Marktplatz steht und sagt: Ich bin für den Frieden, dann wird man in den Knast geschmissen und in den Westen abgeschoben. Da überlegte ich sogar mal, ob ich in die Partei eintrete, um das System von innen zu verändern. Den Gedanken hatte wahrscheinlich auch fast jeder mal. Mein Vater hörte sich das an. Er war da schon viele Jahre in der Partei. Er meinte dann, das sei Quatsch. Mach das nicht. Ist Blödsinn. Schaffst du nicht. Nachdem er das so abgeklärt zu mir sagte, habe ich nie wieder drüber nachgedacht. Zwischendurch hatte ich die Phase, wo ich dachte, es wäre besser, in ein Land zu gehen, an das ich gar keine idealistischen Ansprüche habe, dann können mir diese dort auch nicht kaputtgehen.
Weiterlesen: in „Mutter sorg’ dich nicht. Hier ist alles in Ordnung. Alltägliches aus 1989“ (auch einzelne der Briefe). Publikation der Frauenkultur Leipzig, 2009; 2. Auflage in 2021. Klick hier ->