Susanne Scharff
1989: 25 Jahre, verheiratet, ein Sohn, Lehrerin
Engagierte sich in der Fraueninitiative und gründete die Feministische Bibliothek “MONAliesA” in Leipzig
Ich war bestimmt keine Revoluzzerin, aber ich versuchte, ein paar Dinge anders zu machen. Zum Beispiel habe ich mich mit meinen Schülerinnen und Schülern geduzt. Die waren ja nicht einmal zehn Jahre jünger als ich. Die haben meinen Sohn Philipp fast mit großgezogen und wir hatten ein gutes Vertrauensverhältnis, so dass ich sie irgendwann mal fragte, wie sie das finden würden, wenn wir uns duzen. Das kam natürlich bei der Schulleitung raus. Ich hatte zwar gesagt: Wir können das wirklich nur unter uns tun. Aber sie haben es sehr genossen, wenn die Direktorin auf dem Hof neben uns stand, mich zu duzen. Oder ich gestattete ihnen, zu den FDJ-Veranstaltungen ohne FDJ-Hemd zu kommen. Ich sagte: Wer es nicht will, der muss nicht. Das war damals fast ein Vergehen. Ich fand das nicht revolutionär. Da haben ja andere ganz andere Dinge gemacht.
Im Herbst ’89 war ich zum zweiten Mal schwanger, mit Laura. Ich war Lehrerin für Deutsch und Englisch an drei Schulen in Mockau und Thekla und Klassenlehrerin. Weil es damals wenige Englischlehrerinnen gab, pendelte ich immer zwischen drei Schulen. … Dass ich wieder schwanger war, musste ich meiner Klasse beibringen, denn ich hatte ihnen versprochen, sie auf jeden Fall durch die Prüfung zu führen. Das war eine Klasse, die schon mehrere Lehrerinnen-Wechsel hatte. Nachdem sie am Anfang ziemlich stur waren, denn ich war ja eine von vielen, haben sie sich aber schnell an mich gewöhnt und mich auf Händen getragen. Das habe ich auch genossen. Die wollten nicht noch mal verlassen werden – das habe ich auch verstanden. Ich sagte ihnen, egal was kommt, ich ziehe das mit ihnen bis zum Ende durch. Das habe ich dann übrigens auch getan und habe ihnen hochschwanger alle Prüfungen selber abgenommen und kurz darauf das Kind bekommen. […]
Nach Wien wurde ich von Freunden eingeladen. Das war das erste Mal, dass ich mir den Westen anschaute. Da hatte ich einen ordentlichen Kulturschock – wegen des ganzen Glitzers. Aber unser Freund zeigte uns nicht nur den Glitzer, sondern auch die Ecken, in denen die Junkies saßen. Da hatte ich den zweiten Schock. Aber dort lernte ich auch eine fantastische Frauenszene kennen – mit Frauenverlag, Frauencafé, mit feministischer Schule und Frauenbuchläden. Da hat mich eine solche Sehnsucht danach erfasst, dass ich wusste, ich muss nach Wien ziehen oder ich muss in Leipzig irgendwas machen.
Weiterlesen: in „Mutter sorg’ dich nicht. Hier ist alles in Ordnung. Alltägliches aus 1989“. Publikation der Frauenkultur Leipzig, 2009; 2. Auflage in 2021. Klick hier ->