Ruth Weichsel

Ruth Weichsel

1989: 52 Jahre, alleinstehend, Ökonomin am Institut für Marktforschung

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1989 arbeitete ich als Forschungskomplexleiterin am Institut für Marktforschung Leipzig. Ich bin 1958 in die Partei eingetreten, felsenfest davon überzeugt, dass das ein guter und richtiger Schritt ist. Später waren es konkrete Erfahrungen und das kollegiale Umfeld, die mich zunehmend kritischer stimmten. Außerdem hatte ich immer einen Satz von meinem Vater in Erinnerung: Dass es gut ist, sich für etwas zu begeistern, aber dass ich aufpassen soll, dass ich kein Treibholz werde. Also, unkritisch mitschwimme. Allerdings habe ich bis März ´89 gebraucht, bis ich sagte: Schluss. Ohne mich. Ich trat aus der Partei aus. Freilich ging das nicht ohne Weiteres über die Bühne. Von Vorteil war dabei, dass ich als Unverheiratete persönlich auf niemanden Rücksicht nehmen musste. Aber der Gedanke war schon da, dass ich schlimmstenfalls als Lagerarbeiterin arbeiten muss.

Für mich und viele aus meinem Freundeskreis galt, dass wir uns ganz gut in der Kritik am Bestehenden verstanden. Wenn es aber darum ging, wie denn eine machbare Alternative aussieht – tja. Auch heute denke ich noch, wenn den Menschen keine gescheite Alternative zum derzeit bestehenden System einfällt, produzieren wir unseren eigenen Untergang. 1989, als sich die Unzufriedenheit der Bevölkerung in der DDR immer stärker manifestierte, versuchte man natürlich, Dinge zu kitten. So stand auch die Frage, ob durch Milderung von Versorgungsplänen die politisch brisante Lage entschärft werden kann. In ‚Sonderaufträgen’ sollten wir u.a. Vorschläge unterbreiten, wie Versorgungsprobleme zumindest gemildert werden könnten. Als ob es nichts Wichtigeres gegeben hätte!

Als sich die Wiedervereinigung abzeichnete, gab es im Institut keine größeren Ängste, aber durchaus Illusionen. Wir waren der Überzeugung, dass wir hier der ‚Platzhirsch’ sind: Also wenn es eine Wiedervereinigung gibt, wir bleiben bestehen. Das war ja dann auch so, aber es war vorerst ein äußerst schmerzhafter Prozess. Wir waren nur eines von hunderten Instituten, die sich in Deutschland mit Markt-, Meinungs-, und Medienforschung beschäftigten. Schnell stellte sich auch heraus: Unser Institut musste deutlich kleiner werden – eine schreckliche Tatsache…

Weiterlesen: in „Mutter sorg’ dich nicht. Hier ist alles in Ordnung. Alltägliches aus 1989“. Publikation der Frauenkultur Leipzig, 2009; 2. Auflage in 2021. Klick hier ->