1989: 19 Jahre; ledig, bis Mai Diätköchin in Waldenburg, ab September Theologiestudentin in Leipzig; 2009: Dr. theol. an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig

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Das Abitur hatte ich nicht gemacht, nicht machen dürfen, weil ich nicht in der FDJ war. Ich komme aus einer christlichen Familie, wie man so schön sagt. Ich war Klassenbeste, hatte alles Einsen. Und bekam dann von unserem Direktor gesagt, dass das mit meinem fehlenden sozialistischen Engagement so nicht geht. Deshalb kein Abitur. Mir war aber schon zu diesem Zeitpunkt, etwa in der achten Klasse, klar, dass ich Theologie studieren wollte. Was mir als das Freieste erschien. […]

Ende September – da waren es schon über 10.000 Leute, die demonstrierten – kam ich mit zwei Kommilitonen von der Nikolaikirche in diesen Menschenstrom. Bevor es losging, standen wir und quatschten. Es war eine nette Stimmung. Und dann haben die Leute gesungen, Freiheit gerufen. Wir haben uns dann gegenseitig hochgehoben, um über die Menge zu schauen, um zu sehen, wie viele das sind… Das berührt mich heute noch wahnsinnig. Ich saß auf den Schultern der andern, sah, wie viele Leute das sind, die riefen: Wir sind das Volk! Das hat mich wirklich umgehauen. Das hat mich so ergriffen, weil das wie aus einem Urgrund hoch kam. Wir wollen frei sein. Wir wollen nicht mehr diesen Zwang, diese Diktatur. Wir wollen das nicht mehr. Und irgendwie klang das für mich auch so wie: Wir sind Menschen. Wir wollen ganz und gar Mensch sein. Und ich bin dann von diesen Schultern runtergerutscht und habe da auf diesem Augustusplatz gehockt, habe geheult und gedacht, ich kann nicht mehr aufhören mit Heulen. Und wenn ich heute daran denke, ist das eine Erinnerung, die so ganz zentral in mir drin ist. Dann habe ich das Empfinden, dass ich – was Menschen anbelangt oder Politik anbelangt – irgendwie nie so ganz und gar resigniere; dass es Veränderungen geben kann.

Weiterlesen: in „Mutter sorg’ dich nicht. Hier ist alles in Ordnung. Alltägliches aus 1989“. Publikation der Frauenkultur Leipzig, 2009; 2.Auflage in 2021. Klick hier ->